Zum Musiktheater Feeds. Hören TV.
Erschienen in: Musik mit Musik
Frühere Fassung in: Programmheft zu "Feeds. Hören TV"
2004 wurde in einem Programmheft Brian Ferneyhoughs Oper „Showtime“ angekündigt. Donnerwetter, dachte ich, jetzt springt der Alte über seinen Schatten! Aber der Schatten war doch größer, im Programmheft der Fehlerteufel: Ferneyhoughs Oper hieß natürlich Shadowtime.
1.
Neue Musik ist ausdifferenziert in Konzerte, Lehre und Wissenschaft.
Das Musiktheater als die integrative Gattung ist der Ort, die Teildisziplinen
wieder in das Kunstwerk hereinzuholen. Insbesondere der theoretische
und diskursive Bereich eröffnet noch einen großen,
erweitert-theatralen Spielraum – und die neu entstandenen Themen rund
um Musik und Klang in der Digitalen Revolution bieten inhaltlich eine
Menge Stoff.
2.
Das performativ darzustellen, heißt, selbst die Digitale
Revolution zu verkörpern. Nie war es so einfach und so billig wie
jetzt, Video-Formate zu produzieren und publizieren: Digitalkameras und
das Internet bringen eine enorme Demokratisierung der Medien mit sich.
Auch hier ist das Musiktheater als dezidiert experimentelle Form
prädestiniert, das für sich zu nutzen und neue Formen,
„Formate“ zu definieren.
3.
Ich habe mir angewöhnt, das Gewicht aufs Medium zu legen. Ein
Komponist mag heute mit Meisterschaft eine Fuge schreiben, es
interessiert aber nicht weil die Grundidee, die Fuge, hinfällig
ist (manches stirbt eben doch praktisch aus, Postmoderne hin oder her).
Desgleichen: Streichquartett, Flötensolo, Klarinettensolo,
Liederzyklus, Oper, Violinkonzert u.v.m. Das ist natürlich alles
nur die ganz ganz subjektive, momentane Meinung von mir.
4.
Feeds ist eine
Neue-Musik-Talkshow, ohne jede Verhohnepiepelung, aber mit viel
Oberfläche als Widerstand. Schließlich bedarf das Einfache
der Interpretation. Pop ist ein Code, eine Verschlüsselung, eine
Ästhetisierung. (Die BILD ist ästhetischer, insofern
komplexer als die FAZ und besser für die Kunst geeignet.)
5.
Grundfehler im zeitgenössischen Musiktheater:
-dass immer Musik laufen muss. Als ob die Gleichzeitigkeit von Theater
und Musik definitorisch sei! Theorie- und Dokumentartheater sind dem
Musiktheater noch fast unbekannt.
-dass es literarische Vorlagen sein müssen. Nein, in Feeds ist
nicht alles ästhetisch, es wird auch doziert. Musiktheater, der
Ort der Integration, als Mischung von Ästhetischem und
Nicht-Ästhetischem, Sinnlichem und Begrifflichem.
-dass Musiktheater der Ort ist, an dem verschiedene Künste
zusammentreten. Zu viele Köche verderben den Brei! Zunächst
ist Musiktheater einfach der Ort, an dem verschiedene Medien
zusammentreten.
6.
Talkshow als Format – aber
was ist das für eine Form?
Eine Nummernoper. Wir wollen kanalisieren, schließen, fixieren.
Es geht auch um ein Problem des musikalischen Konzeptualismus: dass ein
Konzept schwer auf eine Dauer gebracht werden kann. Konzepte sind von
Natur aus in der Regel kurz. Das wird hier kompensiert durch Menge:
„Petersburger Hängung“.
Ich kenne hierfür keine Vorbilder. Das ist experimentelles
Musiktheater!
7.
Feeds bezieht sich in Vielem
auf die klassische Avantgarde. Es wird nicht nur äußerlich
technisiert mit neuen Medien, sondern auch die Errungenschaften der
historisch gewordenen Avantgarde zu Techniken funktioniert (angewendet
auf Gesellschaftliches, Heutiges, Diesseitiges, Körperliches):
-Zufall (Cage), in Feeds als
klangliches Ergebnis von Fragerunden;
-Hirnstom-Klangkunst (Lucier), in Feeds
als Messung der Zuhöreraufmerksamkeit;
-Instrumentenpräparation (Cage), in Feeds werden Instrumente mit Geld
präpariert, und allgemein das Hören durch sprachliche
Vor-Informationen;
-Algorithmische Komposition / statistische Musik (Xenakis), in Feeds als Umrechnung von
Statistiken in Musik;
-Klangrecherche (Nono), in Feeds als
aggressiver Akt des Eindringens in Instrumente;
-Raummusik, in Feeds als
ausgewiesene psychologische Manipulation;
-Stille (Cage), in Feeds als
Medium des Tinnitus;
-Geräuschmusik (Lachenmann); in Feeds
mit Pop als Mediengeräusch;
aus der traditionellen Musik:
-Architektur in musikalischer Proportionen umgesetzt (Renaissance), in Feeds ein Bordell
-Zahlensymbolik (zB Bach), in Feeds steht
die Anzahl der Noten für Löhne in Euro
Das wären Beispiele für eine Wende zur Gehaltsorientierung; grundsätzlich geht es aber auch um Distanznahme zur historischen Avantgarde, die mancherorts immer noch als authentischer Ausdruck praktiziert wird.
8.
Ist das alles Neue Musik? Ich wüsste nicht, was es sonst sein
könnte.
September 2010