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Johannes Kreidler Komponist

Kunst muss verdächtig sein

Erschienen in: MusikTexte 123 (Dezember 2009)

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Porträt von Thomas Groetz

 

„product placements“ nennt Johannes Kreidler eine Komposition, bei der in kurzer Zeit sehr viel passiert. Das nur 33 Sekunden dauernde elektronische Stück aus dem Jahr 2008 besteht aus 70200 Fremdzitaten. Die Fülle und die Verschiedenheit dieser Soundschnipsel sind durch die Überlagerung und die extreme Verdichtung des Materials allerdings nicht oder fast nicht mehr auszumachen. Der 1980 in Esslingen geborene Johannes Kreidler, der bis 2006 am Institut für Neue Musik der Freiburger Musikhochschule bei Mathias Spahlinger und Orm Finnendahl und am Institut für Sonologie des Koninklijk Konservatorium Den Haag studierte, stellt mit seinen Werken die Frage nach dem individuellen Anteil am Komponieren und erforscht, aus welchen Quellen und Vermittlungswegen die Musik und die Klänge kommen.

Ich beschäftige mich schon seit einigen Jahren damit, mediale Inhalte in meine Musik einzufügen. Merkwürdigerweise sind Medialität und Remix im Konzertsaal der Neuen Musik bislang rare Themen. Wirklich neu an der Idee von Remix ist aber, dass wir jetzt nicht mehr wie der DJ zwei Plattenspieler haben, sondern ein Internet voll von abertausenden verfügbaren Musikstücken. Es interessiert mich, als Komponist mit solchen gewaltigen Massen umzugehen, mit so einer Riesen-Bibliothek. Das ist auch die Geschichte, die auf einem lastet, mit der man zwangsläufig beschäftigt ist. Und dann ist mir irgendwann klar geworden, dass das natürlich auch ein Problem mit Urheberrechten ist, dass ich zum Beispiel bei der GEMA all diese Sachen eigentlich angeben müsste, obwohl das normalerweise keiner tut.

Johannes Kreidler nahm es in diesem Fall allerdings sehr genau. Er druckte sich 70200 Anmeldebögen bei der GEMA aus und trug minutiös alle Fremdzitate ein. Die sechswöchige Arbeit, bei der sich siebeneinhalb Zentner Papier auftürmten, nahm erheblich mehr Zeit und Mühe in Anspruch, als das Musikstück zu erstellen.

Ich habe das Stück ziemlich schnell komponieren können, weil eine Programmierung dahinter steckt, die erst mal einfach auf allen Klang zugreift, der auf der Festplatte vorhanden ist. Ich habe also nicht jedes einzelne Sample quasi mit der Schere zurechtgeschnitten, sondern das war ein allgemeiner Zugriff, bei dem ich nur Parameter wie Dichte und Lautstärke kontrollierte, und danach habe ich ausgewählt. So habe ich verschiedene Fassungen erstellt, verschiedene Abschnitte daraus zusammengesetzt und dann kam eine Dramaturgie zustande. Es gibt zwei Wellen, die zu Höhepunkten führen, und noch eine Art Coda. Fraglos erkennt man die allermeisten Fremdanteile nicht, das ist völlig unmöglich; schon psychoakustisch kommt bei der hohen Dichte nur noch Rauschen heraus. Aber ich wollte nicht einfach nur technologisch demonstrieren, dass man so viel Musik zusammenkomprimieren kann, sondern die Frage nach der Erkennbarkeit komponieren: Ist da ein abstrakter Klang oder eine konkrete Semantik? Ganz zum Schluss zum Beispiel gibt es auch ein Fremdanteil, der zwei Sekunden lang dauert, da geht deutlich ein ´Fenster´ zu einer bestimmten Musik auf.

Das Stück „product placements“ von Johannes Kreidler fordert den Hörer auf, sich genau zu konzentrieren, um die Mikrostruktur dieser dichten Sound-Arbeit zu verfolgen. Bewusst arbeitet der Komponist in einem Grau- oder Zwischenbereich, wo man sich nicht sicher ist, ob man ein Klangzitat erkennt und zuordnen kann. Kreidler geht es allerdings nicht darum, Aha-Effekte zu erzeugen. Er arbeitet deshalb gerne mit unbekanntem, manchmal belanglosem Ausgangsmaterial, das sich deshalb um so flexibler verarbeiten lässt. Thematisieren möchte er damit auch die Frage nach dem Gebrauch von Musik, der insbesondere durch legale und illegale Computer-Downloads aus dem Internet in jüngster Zeit einen neuen Aspekt bekommen hat. Dieser schnelle Zugriff auf Audio-Material unterschiedlichster Herkunft und dessen Benutzbarkeit steht in einem großen Gegensatz zur bildungsbürgerlichen Tradition der Musik, die von der Respekt gebietenden Einzigartigkeit und der mühseligen Aneignung des musikalischen Erbes ausgeht. Um auf diese kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen aufmerksam zu machen, gibt sich ein Komponist wie Johannes Kreidler nicht mehr damit zufrieden, musikalische Werke im stillen Kämmerchen entstehen zu lassen. Sein Stück „product placements“ besteht nicht nur aus einem Klanggebilde, sondern ebenso aus einer Skulptur und einer Kunstaktion. Die Skulptur, die aus den aufgetürmten Anmeldebögen der musikalischen Komposition besteht, wurde am 12. September 2008 mit einem Lastwagen zur GEMA-Generaldirektion am Berliner Wittenbergplatz transportiert und dort abgegeben.

Ich habe diese Aktion schon im Vorfeld publik gemacht mit einem Web-Video, das in kurzer Zeit einen sehr starken Verbreitungseffekt hatte. Also es war nicht so, dass ich die GEMA damit überrascht habe. Sie rief mich dann auch zwischenzeitlich an und sagte, sie fänden es ja toll, dass ich mal diese Thematik aufs Tapet brächte – in Wirklichkeit waren sie natürlich ´not amused´. Ich habe sie daraufhin dazu ermuntert, eine Diskussion vor Ort zu führen, wenn dann Presse, Radio und Fernsehen da sein werden. Am Tag der Aktion kam es dann auch zu einer zweistündigen Diskussion über die Zukunft des Urheberrechts bei der GEMA-Generaldirektion in Berlin. Mir geht es gar nicht darum, die GEMA abzuschaffen. Mir geht es darum, mit der Kunst selber zu zeigen, dass es da Reformbedarf gibt. Es wäre möglich, mit den neuen digitalen Medien eine sehr freie Kultur zu etablieren, in der ein großer Austausch möglich ist, den es davor eigentlich auch schon gab. Ich verwende ja auf dem Klavier 88 Tasten, die nicht ich erfunden habe – und wer für Geige schreibt, schreibt ab. Ich glaube, die Kultur lebt immer davon, dass Dinge weitergegeben werden, und deswegen bin ich erst mal dagegen, dass ein Urheberrecht da Barrieren einbaut zu Gunsten von ein paar wenigen und zu Ungunsten von einer freien Verbreitung von Kultur, wie übrigens auch von lebensnotwendigen Medikamenten. Jedoch existieren solche Institutionen wie die GEMA ja dafür, dass Künstler zu Geld kommen, und da bin ich natürlich auch betroffen, und würde mir wünschen, dass ich durch meine künstlerische Arbeit meine Miete bezahlen kann. Insofern ist die GEMA nicht unnötig, man muss eben einen Mittelweg finden. Ich bin derzeit aber der Ansicht, dass in manchen Dingen nicht gut genug differenziert wird. Die GEMA ist zu pauschal, zum Beispiel bei Publikationen im Internet. Wenn ich meine eigene Musik im Netz zum (kostenlosen!) Download anbiete, muss ich selber GEMA-Gebühren bezahlen. Das ist viel zu rigoros und nur ein Beispiel dafür, dass man hier neue Wege gehen könnte.

Wie diese neuen Wege aussehen könnten, bleibt zunächst unklar, genauso wie die Frage, ob und wie geistiges Eigentum zu schützen sei. Scheinbar ist dieses Eigentum einem Werteverfall ausgesetzt, wie so vieles in unserer nach-postmodernen Gesellschaft. Ob das Internet eine demokratische, freie Kultur erzeugen oder unterstützen kann, ist eine ebenso spannende Frage. Wie frei kann oder muss Kultur sein? Ist der Rahmen, den eine Kultur schafft, um erkennbar und identifizierbar zu sein gegenüber anderen Kulturen nicht bereits eine Beschränkung, also Unfreiheit? Ist der globale User des Internet in seinem kostenlosen Zugriff auf verschiedenste Musik oder andere Kulturgüter ein freies, selbst bestimmendes Subjekt, oder ist er nicht bereits wieder unfrei in dem seligen Taumel, alles das gratis zu bekommen, was er eigentlich mühselig finden und bezahlen müsste? Weiterhin kann man die Frage stellen, ob der sehnsuchtsvolle Blick auf und in das Internet nicht ein utopischer Ausweg scheint angesichts eines realen kulturellen Geschehens, das zum Beispiel im Bereich der zeitgenössischen Musik jungen Komponisten nur beschränkte Möglichkeiten bietet, um ihre Musik und ihre Ideen zu verbreiten. Dies gilt insbesondere für jene, die nicht oder noch nicht von öffentlichen Aufträgen leben können. Johannes Kreidlers Musik-Aktion „product placements" zeigt demgegenüber, wie man als Komponist in Eigeninitiative seine Ideen und seine Musik bekannt machen kann. Nicht nur auf YouTube sind eine Reihe von Kreidlers Videos zu sehen, auch auf seiner eigenen Website www.kreidler-net.de, auf der man neben ausführlichen Informationen und Essays seine Stücke auch anhören und deren Partituren herunterladen kann. Darüber hinaus erhält Johannes Kreidler mittlerweile regelmäßig Kompositionsaufträge. Zuletzt entstand ein Stück für das Ensemble Modern, das den umfangreichen Titel trägt: „Kantate. No future now: 1. Hard / Lichtenstein / 2.: gekürzt / 3. Ehe und Arie / 4. selbst / ganzer Film / Kreidler (ePlayer) / Club / Dr. Meissner / 5. Barock, Choral / Singspiel“.

Wie in anderen Stücken auch habe ich da wieder sehr große Mengen an Material eingegliedert und das in dem langen Titel zum Ausdruck gebracht, der in ein paar Umschreibungen aufzuzählen versucht, was da alles drinsteckt. Das ist zum Beispiel Hardrock-Musik, oder ein Bezug zur Malerei Roy Lichtensteins, deshalb heißt der erste Satz „Hard / Lichtenstein“, oder der Soundtrack eines kompletten Films, der eigentlich 90 Minuten lang geht und hier in 30 Sekunden abgespielt wird, oder ein barocker Choral und ein Singspiel. Insgesamt sind es, glaube ich, an die 350 Fremdanteile. Das Werk ist ein Netzwerk – und womöglich ein illegales. Picasso sagte mal: Ich klaue durchaus, da, wo es überhaupt etwas zu klauen gibt. Heute würde ich eher sagen: Ich komponiere durchaus, da, wo es überhaupt etwas zu komponieren gibt.

Die aus dem Computer stammenden und am Computer bearbeiteten Soundfiles erklingen nicht pur, sondern sind in Beziehung gesetzt zu den instrumentalen Möglichkeiten eines großen Ensembles. Der Obertitel des Werkes „Kantate. No future now“ bezieht sich einerseits auf die Kantate, ein historisches, mehrsätziges musikdramatisches Modell, bei dem Gesang beziehungsweise Sprache eine besondere Rolle zukommt. Andererseits kündet der Slogan ´No future now´ von den Endzeitvorstellungen, die Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts erstmals in der Punk-Musik postuliert worden sind, womit unter anderem das Ende der Moderne und ihrer progressiven Zukunfts-Ideale gemeint war. Für die zeitgenössische oder Neue Musik bedeutet dies, dass die Grenze der Materialentwicklung und Materialerweiterung – eine wichtige Prämisse der Avantgarde – erreicht oder bereits überschritten ist. Es gibt mittlerweile fast keine oder kaum noch neue Klänge zu entdecken. Die vermeintliche Unmöglichkeit, etwas Neues zu schöpfen, warf, beziehungsweise wirft Teile der Kultur zurück auf das, was bereits war. Fortan arbeiteten sich Künstler aller Art am Bestehenden ab, eine Situation, der sich auch Johannes Kreidler ausgeliefert sieht, wobei das Bestehende aus einem unübersichtlichen Berg an verfügbaren Soundfiles besteht, ein Berg, den er jedoch lustbetont und bewusst affirmativ abträgt, umschichtet und neu zusammensetzt. In der Komposition „Kantate. No future now“ hat beispielsweise das Ausgangsmaterial von Stimmen eine besondere Bedeutung.

Im dritten Satz wollte ich abwechselnd eine Männerstimme und eine Frauenstimme haben, die extrem tief transponiert werden. Man kennt diesen Effekt auch von zu langsam abgespielten Tonbändern, da klingt dann nur noch so ein ganz tiefes ´wou wou´. Man erkennt nicht mehr die Sprache, aber es ist als Sprache identifizierbar. Und diese sehr tiefen Klänge kann ich dann schön mischen, mit einem Reiben auf einer großen Trommel, mit Kontrabass-Tönen oder mit einer gedämpften Posaune, so dass eine Klangkomposition entsteht, eine Klangfläche, die aber trotzdem hergeleitet ist aus etwas Anderem, aus Außer-Musikalischem und nicht von mir Erstelltem. Die Ableitung wird auch immer wieder gezeigt: Man hört ganz kurz das Original und dann geht es wieder runter in diesen unter-semantischen Bereich. Und natürlich ist da auch der Gegensatz von Mann-Frau, der klanglich aufgelöst, dann wiederhergestellt und wieder aufgelöst wird.

Der Abschnitt „Ehe und Arie“ aus Johannes Kreidlers Komposition „Kantate. No future now“ verbindet ein in tiefen Registern angesiedeltes Mann/Frau-Gespräch mit einer klanglich extrem hoch transponierten romantischen Arie, zu der Glockenspiel und Pikkoloflöte ertönen. Die als Soundfile vorliegende Arie ist einer der vielen Bezüge auf die heterogene musikalische Hinterlassenschaft, mit der sich Kreidler als Tonsetzer der Gegenwart konfrontiert sieht.

Alles, was ich verwende, ist logischerweise von früher. Das umfasst aber beileibe nicht nur die ´große´ Tradition, die man, wenn überhaupt hierzulande in der Neuen Musik Zitate eingesetzt werden, für das einzig relevante Repertoire erachtet, sondern theoretisch jede Schallwelle, die aufgenommen wurde oder von Instrumenten abrufbar ist. Wobei sich heute weniger die Frage stellt, ob ein Geräusch Musik sein kann, sondern ob ein Schlager, ein ´Mediengeräusch´, Musik sein kann. Ich mag nur Sachen zitieren, die ich nicht mag. Das meiste drängt sich auf; ich suche nicht, ich filtere.

Die Musik-Bibliothek, mit der Johannes Kreidler arbeitet, scheint in keiner logischen Ordnung strukturiert zu sein. Der Besucher wird nicht selbstverständlich, sondern nur durch Zufall finden, was er sucht. Der Komponist berührt mit seiner Klang-Verarbeitung Themen wie Fragmentierung, Ent-Individualisierug und jongliert virtuos mit den Bruchstücken einer mal monströsen, mal Ehrfurcht erregenden und dann wieder banalen Welt aus musikalischen Meisterwerken, Schlagern, Popmusik und Sprachaufnahmen. Die instrumentalen Stimmen in der Komposition „Kantate. No future now“ kommentieren, überschreiben oder kontrapunktieren die Klang-Samples, wobei eine Verwobenheit entsteht, die einen neuen Werk-Charakter annimmt. Am Ende der „Kantate“ ist deutlich ein Choral aus der Barock-Zeit zu hören, der durch klangliche Bearbeitungen teilweise unkenntlich gemacht beziehungsweise durch die Verwendung unterschiedlicher Filter zusätzlich rhythmisiert wird. Ein hinzu komponiertes Vibraphon spielt gleichzeitig in einem weiteren, dritten Rhythmus.

Johannes Kreidler stellt sich als Komponist der umfassenden Relativierung von Kulturen, Wert-Systemen, unterschiedlichen Traditionen und Zeitepochen, die auch ein Neben-Effekt der globalisierten Gesellschaft ist. Ein aus religiöser Inbrunst geschriebener Choral steht bei ihm gleichwertig neben Heavy Metal- oder aktuellen Rhythm & Blues-Klängen und Klang-Bruchstücken.

Diese Relativierung komponiere ich. Auch was wirklich das Eigene ist in meiner Musik und was das Fremde, ist überhaupt nicht klar zuweisbar. Es ist ja nicht so, dass die Live-Instrumente dann alles mein Anteil wären, sondern die Instrumente haben – wie gesagt – auch schon ihre Geschichte. Ich bin eigentlich optimistisch und dem gegenüber positiv eingestellt. Ich trauere überhaupt nicht einem alten Zustand nach, in dem die Dinge viel einfacher, viel überschaubarer waren, sondern stelle mich sehr gerne diesen vielen Informationen, dem Austausch und den Erfahrungen, die man da machen kann. In der Musik bringe ich dieses Identitätsverständnis zum Ausdruck.

Obwohl Kreidler einen positiven Zugang zu dem hat, was ihn an vergangener und gegenwärtiger Musik umgibt, stellt er die bestehende Flut an Klang-Informationen dar als einen undurchdringlichen Dschungel sich gleichzeitig ereignender Phänomene. Seine Komprimierungen und Fragmentierungen lassen nicht das Bild eines reichen klanglichen Erbes entstehen, sondern das einer zerstückelten und atomisierten Kultur, in der man sich nicht unbedingt zuhause fühlt. Wichtig erscheint die Frage, ob aus der geballten Präsenz des Vergangenen etwas Neues destilliert werden kann.

Ganz banal gesagt: ein Stück, in dem 70200 Fremdanteile vorkommen, hat noch keiner gemacht. Ich habe danach recherchiert. Ein Amerikaner hat in den neunziger Jahren eine lange Collage mit rund 1000 Fremdanteilen komponiert, aber darüber hinaus habe ich nichts gefunden und ich bin wirklich der Ansicht, dass das nicht nur quantitativ einfach eine Erweiterung ist – meinetwegen der Weltrekord im Samplen –, sondern durch so eine große Menge auch ein qualitativer Unterschied, eine neue Erfahrung. Vor allem die Urheberrechts-Frage ist in dieser Schärfe sehr neu, weil die ganzen Medien so neu sind. Überhaupt bringt die Technologie sehr viel Neues, und kann die Menschheit viel stärker voranbringen als die alten Ideologien. Es gibt den Satz: Das Internet ändert alles. Da glaube ich auch daran. Natürlich ist nicht alles gut, es gilt unbedingt, wachsam zu bleiben, um die Art und Weise, wie Technologie hergestellt und genutzt wird, unter demokratische Aufsicht zu stellen, gerade angesichts der Überwachungsmaßnahmen, die Schäuble & Co gerade einleiten. Deswegen habe ich die Netzaktion „Call Wolfgang“ gestartet, bei der zwei Computer über einen iranischen Server miteinander telefonieren und dabei automatisch generierte Terrorabsprachen durchführen – ein Nonsens-Dialog, gespickt mit Reizwörtern für das BKA. Das ist hart an der Legalitätsgrenze, obwohl diese Computer definitiv unschuldig sind, ebenso wie Millionen Internetnutzer. Kunst, die dagegen angeht, muss verdächtig sein, das ist ihre Aura. Wichtig ist, dass Widerstand möglich ist, dank der demokratisierten Technologie. Ein Laptop kann mehr als einst manche Fabrik. Sowieso glaube ich, dass wir uns technologisch noch ungefähr in der Steinzeit befinden. Irgendwann werden wir halbe Roboter sein, wir werden Augen haben, mit denen man viel mehr Frequenzen wahrnimmt und Ohren, mit denen man Ultraschall hört und die man wie Richtmikrofone einsetzen kann. Dann wird es noch mal eine ganz andere Neue Musik geben.

Bevor diese Zukunft anbricht, lohnt es sich, noch einmal in die Vergangenheit zu schauen. Dabei stellt sich heraus, dass eine kompositorische Arbeit, die sich in einem erheblichen Maße auf Fremdmaterial bezieht, historisch bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück reicht, in eine Zeit, als die Krise des eigenen Schöpfertums ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. Der kanadische Komponist und Medienkünstler John Oswald zum Beispiel erörterte in einem viel beachteten Essay von 1985 unter dem Motto „Plunderphonics“ ausführlich die kreativen Möglichkeiten des konkreten Arbeitens mit der musikalischen Geschichte und Gegenwart. Praktisch führte er zum Beispiel mit seiner Komposition „Parade“ aus dem Jahr 1986 vor, wie man die gleichnamige Ballettmusik des französischen Komponisten Erik Satie von 1917 als Grundlage für ein komplexes eigenes Werk verwenden kann. Dabei ist diese Grundlage nicht nur in ihrer Geschwindigkeit und in anderen Parametern verändert, sondern es wird eine weitere Schicht an instrumentalen Klängen hinzugefügt, die mit dem Ausgangsmaterial in einen Dialog tritt. Oswald beschäftigte sich nicht nur mit dem musikalischen Erbe der Klassischen Musik, sondern bearbeitete auch die verschiedensten populären Genres. Auf seiner CD „Plexure“ von 1992 verklammerte, verdichtete und rhythmisierte er Partikel von über eintausend Pop-Songs. Dadurch, dass ihre Ursprungsquellen kaum mehr erkennbar sind, entging Oswald dem Problem seiner früheren Arbeiten, die aufgrund von Urheberrechtsklagen, etwa durch den kürzlich verstorbenen Michael Jackson nicht mehr verbreitet werden dürfen. Die musikalischen Arbeiten von Oswald läuteten das so genannte Zeitalter des ´Plünderns´ ein, in dem ein neues Verhältnis zur Vergangenheit und zur Tradition deutlich wird.

Andere Stücke von Johannes Kreidler wie beispielsweise „cache surrealism“ für Bariton-Saxophon, Akkordeon, Cello und Zuspielung arbeiten zwar mit punktuellen Verdichtungen, verwenden jedoch auch andere Techniken der Modifikation von Tonmaterial.

Im ersten Teil geht es vor allem darum, dass ich Musikstücke transponiere und dazu spielen die Live-Instrumente. Durch diese ´Melodik´, die ich da herstelle, dass da nicht nur ein Ton, sondern ein ganzes Musikstück eine Quint höher transponiert wird, schaffe ich Bezüge zueinander, die auch wieder passen zu den Instrumenten. Allgemein kann man eigentlich sagen: Was ich viel mache, ist, dass ich Techniken der Neuen Musik aus den letzten fünfzig Jahren verwende, aber einzelne Töne medial durch ganze Musiken ersetze. Martin Schüttler spricht von ´Material-Vergröberungen´. Das finde ich einen sehr guten Ausdruck. Man hat nicht den geschliffenen, kleinen Ton, sondern das gröbere Aggregat davon wäre, dass da Anlagerungen sind und an dem Ton schon Musik dransteckt. Das nenne ich ´Musik mit Musik´. Gérard Grisey sagte: „Ich komponiere nicht mehr mit Noten, sondern mit Tönen“. Ich sage: Ich komponiere nicht mehr mit Tönen, sondern mit Musik. So wie die Musique Concrète Alltagsklänge nahm und musikalisierte, nehme, oder ´enteigne´ ich Musik und musikalisiere sie.

Die Komposition „cache surrealism“ beginnt übrigens mit einem für Kreidler ungewöhnlich schnell identifizierbaren Soundfile. Es ist der Song „Like you´ll never see me again“ aus dem 2007 erschienenen Album „As I Am“ der amerikanischen Sängerin Alicia Keyes. Der Titel „cache surrealism“ bezieht sich auf den cache genannten temporären Speicher des Computers, eine Art elektronisches Kurzzeitgedächtnis. Das Surreale an diesem Speicher kann die zufällige und ungeordnete Erfassung von verschiedensten Informationen, Dateien oder Links sein, die sich dort ansammeln.

Für Johannes Kreidler ist der Computer ein wichtiges und mittlerweile unentbehrliches Arbeitsgerät. Dennoch gibt es Kompositionen von ihm, die ohne Computer oder computergenerierte Sounds auskommen. 2007 verwendete er zum Beispiel in seiner Komposition „3300 Klänge“ für zwölf Instrumentalisten – wie der Titel schon sagt – eine riesige Dimension von Sound.

Früher hatte man zwölf verschiedene Töne, die in einer Reihe geordnet wurden und heute gibt es tausende Klänge. Der ganz einfache Wunsch bei dem Stück war, die Erfahrung zu haben, in zwölf Minuten tausende verschiedene Klänge zu hören. Insofern würde ich das eher Klangkunst nennen.

„3300 Klänge“ ist kein akustisches Bombardement, sondern hat selbst ruhige Passagen. Strukturiert ist die Komposition durch verschiedene Gruppierungen, die zum Beispiel besonders hohe oder besonders tiefe Klänge versammeln. Darüber hinaus gibt es Sound-Flächen mit Geräuschen und mit geschichteten Akkorden. Inspiriert wurde Kreidler bei diesem Stück übrigens von dem bildenden Künstler Gerhard Richter, der unter anderem 1974 ein großformatiges, in kleine Kompartimente unterteiltes Bild mit dem selbstbeschreibenden Titel „4096 Farben“ malte. Bei der Komposition „3300 Klänge“ steht die sinnliche Erfahrung im Vordergrund, einen nicht enden wollenden Reichtum unterschiedlicher Klangereignisse erleben zu können. Klangvielfalt spielt auch bei den Klavierstücken von Johannes Kreidler eine Rolle, etwa im „Klavierstück Nr. 5“, geschrieben für Klavier und eine vierkanalige Zuspielung.

Da habe ich erst mal nur Klavierklänge verwendet und den Witz, dass das Klavier bei der Zuspielung Glissandi macht, was ein Klavier normalerweise nicht kann, denn man hat auf dem Klavier ja nur schwarze und weiße Tasten ohne Zwischenbereiche und ohne Übergänge. Mit elektronischen Mitteln kommt man aber natürlich darüber hinweg und dazwischen rein und kann auch Klaviertöne glissandieren lassen. Das zu kombinieren und das Klavier medial zu erweitern, war die erste Idee; schließlich gibt es heute Lautsprecher, die nicht nur so viel kosten wie ein Flügel, sondern tatsächlich auch so gut klingen, wenn man hochwertige Samples nutzt. Dann sind Ideen aufgekommen wie zum Beispiel: Transponiert man den Klavierton ganz, ganz tief, wird er eigentlich nur Geräusch, ein Brummen. Und wenn man Klaviertöne extrem hoch transponiert, werden sie nur noch Rauschen. Da schließt sich ein Kreis. Ich habe ein Geräusch-Spektrum und dazwischen sind die 88 Tasten irgendwo. So kann ich Kreise bilden, wo es einfach immer runter geht, bis es nur noch Geräusch ist, und dann kommt es von oben aus dem Geräuschspektrum wieder in den Klavier-Ambitus hinein. Dazu gibt es eine räumliche Aufstellung von Lautsprechern, damit auch Kreise im Raum stattfinden. Und daraus erwächst dann immer mehr. Des weiteren kann man aus diesem indifferenten Brummen eigentlich gar nicht mehr schließen, dass das Klaviertöne waren. So wie man aus Grau alle Farben filtern kann, kann ich dann aus diesem klanglichen Grau alle möglichen anderen Materialien wieder hervorkommen lassen.

Das „Klavierstück 5“ von Johannes Kreidler aus dem Jahr 2005, das auf verschiedenen Ebenen Schleifen und Kreise ausbildet, verwendet noch kaum Soundfiles, die seine gegenwärtige Arbeit als Komponist bestimmen. Dennoch wird hier sein prinzipielles Interesse bereits vorgeführt, Klänge zu erweitern und in Regionen hinein zu transformieren, wo die ursprüngliche Herkunft preisgegeben wird, um schließlich als eine verwandelte Identität erneut in Erscheinung zu treten.

September 2009