Zum Musiktheater Feeds. Hören TV.
Erschienen in: Musik mit Musik
Frühere Fassung in: Programmheft zu "Feeds. Hören TV" und
in
"Musik, Ästhetik, Digitalisierung - eine Kontroverse"
1.
Autorschaft ist ein Konstrukt. Was ist von mir? „Schon ich selbst bin
nicht von mir“ (Sophie Rois). Jede Komposition ist eine
Weiterkomposition. Wer komponiert, nimmt eine Auswahl existierender
Musik, reduziert sie auf vorkompositorischen Zustand zurück und
setzt von da neu zusammen, bis es wieder Werkcharakter hat. Der Autor
ist nicht tot, wie Roland Barthes sagte, aber die Toten sind bei uns
noch immer Autoren. Ein Werk ist voll anderer Musik oder ihrer
Rudimente.
Dann spielen Instrumentalisten das Stück, es sind deren Muskeln
und Nerven, die die Klänge erzeugen und steuern, ihre geistigen
Kräfte, die den Werkcorpus formen. Des weiteren haben die
Instrumentenbauer ihren Anteil – wie viele Instanzen hat überhaupt
ein Werk? Jeder, selbst ein Beethoven, steht noch „auf den Schultern
von Riesen“ (Bernhard von Chartres).
Ich tue zunächst nichts weiter als diesen Umstand kenntlich zu
machen; die Einzeltöne „vergröbere“ (Martin Schüttler)
ich immer wieder zu ganzen Musiken. Ich bezeichne das als „Musik mit
Musik“. Nicht Musik über Musik,
das wäre viel spezieller.
2.
Angefangen hat es bei mir mit kurzen Samples, Schnipseln aus Popmusik,
kaum länger als ein einzelner Ton, und ich habe sie angewendet wie
einzelne Töne, auf alle möglichen Satztechniken der Neuen
Musik der letzten 70 Jahre (Dekonfabulation);
kleine Widerhaken und Selbstläufer. Es wurden immer mehr, bis zu
70 200 (product placements).
Dann habe ich die Noten ganzer Stücke in die Tasten gedrückt
und am Computer daraus andere Resultate generiert (5 Programmierungen eines MIDI-Keyboards).
Dann aus Aktienkursen Melodien gebildet: Jeder Mensch ist ein
Künstler, auch Banker; ein Pop-Kompositionsprogramm hat mir daraus
Stücke arrangiert (Charts Music).
Dann habe ich meine Musik von Komponisten aus Billiglohnländern
gegen (wenig) Geld nachahmen lassen (Fremdarbeit).
Ich habe Programmiercode als Schallwelle erklingen lassen (Compression Sound Art), einen
Kompositionswettbewerb für mich ausgerichtet (Fremdarbeit), für die
Wiedergabe einer Aufnahme des Papstes ein Kondom als Membran benutzt (Compression Sound Art) und die
Tonspuren kompletter Filme in wenigen Sekunden abgespielt (Kantate).
3.
Ich lasse also komponieren. Ich lass es bleiben und lasse andere
arbeiten, früher oder jetzt. Warum? Weil sie es tun. So ist die
Welt. Ich muss kein Handwerk ausüben, wofür es Maschinen
gibt, ich muss nicht an der Feder knabbern, wenn andere bereits auf
Lösungen gekommen sind. Ich lebe nicht isoliert, sondern beziehe
mich auf Dinge. Die meisten Komponisten komponieren immer noch an der
falschen Stelle: „Größere Gebäude kennen sie nicht als
solche, die ein einziger zu bauen imstande ist!“ (Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner)
(Übertrieben gesagt: Das Medium
muss komponiert werden, was dann damit gemacht wird ist nur
dramaturgisches Handwerk, Einsatz der üblichen musikalischen
Fantasie, die auch jeder Kirchenmusiker hat.)
4.
Ich wurde mal gebeten, für ein Theaterstück eine tragische
Musik zu schreiben. Ich habe mit dem Hinweis abgelehnt, dass es schon
Tausende tragischer Musiken gebe. Dem ist nichts hinzuzufügen! Sie
sollen sich doch in der Musikgeschichte bedienen. Ich komponiere nur
da, wo es auch etwas zu komponieren gibt. Das Rad braucht man nicht nur
nicht neu zu erfinden, man braucht es auch nicht neu zu bauen.
Schließlich werden geistige Leistungen nicht weggenommen, sondern
vervielfältigt.
Die großen Gefühlsregungen der Menschen sind alle in Musik
ausgedrückt, und diese Musiken funktionieren wahrscheinlich
für immer (Spannung-Entspannung!). „Es stimmte auf eine gewisse
Art mit meiner eigenen und, wie ich herausbekommen hatte, gar nicht nur
individuellen, wachsenden Neigung überein, alles Leben als
Kulturprodukt und in Gestalt mythischer Klischees zu sehen und das
Zitat der ‚selbständigen’ Erfindung vorzuziehen.“ (Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus)
5.
Aber gerade weil das Schaffen heute so hochgradig in Bezügen zum
Vorhandenen steht, ist Originalität geboten. Freilich gibt es
Ideen, qualitative Sprünge, Leistungen einzelner. Die Haltung ist
jedoch eine andere als die des genial-autonomen Autors: Open Source.
Man legt die Quellen offen und hat seine transparenten Anliegen damit.
Originalität ist eine Frage der Ebene. Es empfiehlt sich
überhaupt, zwischen Medien wechseln zu können. Ein
relativiertes Medium ist ein bewussteres.
6.
‚Handwerk’ ist etwas Objektives. Nicht was der Kopf und nicht was das
Herz macht, sondern was in der Hand liegt, von ihr verrichtet wird und
was von anderen Händen abgeschaut werden kann – das ist das
Handwerk. Für die Instrumentation etwa kann ein Handbuch viel
darüber informieren, welche Kombinationen eignen.
Das hat den Charakter des Funktionellen. Eine Stelle spielt die
Trompete, weil es herausstechen soll, weil es glänzen soll, weil
es jazzig klingen soll. Freilich kann einem das unmittelbar einfallen,
ändert aber nichts an solchen Tatsachen, die spätestens ein
Musikwissenschaftler konstatieren wird. Funktional wofür? Wir
enden bei den elementaren musikalischen Qualitäten:
Klangschönheit, Stimmung, Gestaltbildung, Spannung-Entspannung,
Erwartungsreize. Darüber hinaus aber auch bei begrifflichem
Gehalt, bis hin zur politischen Stellungnahme und Agitation.
Instrumentieren ist Instrumentalisieren, und umgekehrt.
Das Mittel ist Nachricht, aber nicht Zweck! Musik machen mit Musik.
7.
Wir leben im Zeitalter der Objektivierung und Funktionalisierung alles
Ästhetischen: so formuliere ich die „gehaltsästhetische
Wende“ (Harry Lehmann). An ‚Material’ oder ‚Medien’ ist reichlich
vorhanden. Das ist aber kein einfaches Lexikon an Vokabeln, mit denen
man nun Sätze bilden könnte. Material ist grob und
groß, die Töne sind schwer und sperrig. Sie ziehen sich
sogleich zu ganzen Gebilden zusammen. Schon der Einzelton ist eine
Klangkomposition.
Wie damit also umgehen? Wenn es bewusste Werktreue gibt, muss es auch
bewusste Werkuntreue geben, ein Regietheater in der Musik. Einen
Klavierton mit einem Cembaloton kombinieren. Den Jägerchor zwei
Oktaven tiefer singen (wenn überhaupt). Warum betrifft
‚Interpretation’ immer nur Tempo, Phrasierung und Dynamik? Mit diesem
Interpretationsbegriff wird die Klassik nicht aktualisiert, sondern
neutralisiert. Wir sind Entfremdete und jede Form von Zweckentfremdung
ist darum ehrlicher. Wer den Jägerchor richtig singt, singt ihn
falsch (oder sind wir etwa im 19. Jahrhundert?). Ich finde es ja selber
peinlich, dass die Musik dem schon wieder in die Jahre kommenden
Regie(sprech)theater nachhängt, aber da muss sie jetzt auch noch
durch, und zwar gründlich.
8.
In Feeds: die
architektonischen Maße eines Bordells in musikalische
Formproportionen umgesetzt, den verarmten Mozart mit billigen
Instrumenten aufgeführt, Einkommensstatistiken mit dem
pro-Ton-1-Euro - Algorithmus musikalisiert, aus alten Computerspielen
die Musiken gesammelt, wenn der Held stirbt, einen kriminellen Text mit
Zensurtönen zur Partitur einer Melodie verwandelt, Lügen
akustisch signalisiert, Politikerreden in Partituren transformiert,
Schönbergs Pierrot mit
einer Navigationsgerätstimme nachgesprochen, den Grad der
Passivität der Zuhörer hörbar gemacht, und so weiter.
9.
Der Extremfall ist das Readymade, das komplett Übernommene, das
nur noch durch minimalsten Zusatz oder Re-Kontextualisierung zu einem
neuen Werk wird. Daneben ist es aber vor allem das Transformieren aus
anderen Medien und Bereichen in die Musik und das neu Machen Lassen
durch andere oder Maschinen: der erweiterte Readymade-Begriff.
All das ist in der Musik des Konzertsaals ein kaum bestelltes Feld. Die
Musique conrète hat
sich auf Schaeffer, Henry und Ferrari beschränkt, in Deutschland
wurde sie adornitisch exkludiert, in Frankreich vom langweiligen
Spektralismus abgelöst, am ehesten weitergediehen sind diese Dinge
nach Cage im amerikanischen Untergrund, beim Sampling der U-Musik und
in der Klangkunst. Musique concrète, Sampling,
Intertextualität, Collage, Bricollage, Remix, Appropriation Art,
Mash-Up – das hat
sich auch etwas diffundiert und leicht ist gesagt: gab’s doch schon.
Nein. Das fängt gerade erst an. Durch das Web 2.0 entsteht eine
riesige Mash-Up-Kultur, im Pop wie im Ernst. Man denke an Hitler finds out..., die Inappropriate Soundtracks oder die Shreds (bitte alles bei YouTube
googeln), undundund. Erstens: die großen Mengen, die
verfügbar sind, die Archive der Welt. Zweitens:
Open-Source-Software lässt an jedem Laptop die Errungenschaften
von 60 Jahren elektronischer Musik (und allen anderen Medien) kostenlos
anwenden; noch vor 15 Jahren war das nur in extrem teuren Studios
möglich. Material und Technik stehen in nie dagewesenem Umfang
allen zur Verfügung, das kann nun kombiniert werden. Wer mir
erzählt, dies wäre ja schon bekannt und gegessen, der
möge die Neue-Musik-Landschaft in Deutschland begutachten, da
feiern ganz andere Urständ fröhlich weiter.
10.
Ist Funktionalisierung banal? Auf der Bühne auf die CDU schimpfen
kunstlos? Die Klänge verbal unterfüttern didaktisch? Wo
bleibt das Nichtidentische, der ästhetische Mehrwert, die
gefühlte Unendlichkeit und unausschöpfliche Tiefe? Ist
Konzeptkunst in der Musik überhaupt möglich, da sie doch Zeit
einnimmt und darum immer irgendwie Details braucht? Können
Konzepte anders offen sein als nur durch vages Rumexperimentieren?
Ja, ja, ja. Das kann Musiktheater leisten. Formal beispielsweise mit
dem Talkshow-Format als einem bühnentauglichen
‚Gesprächskonzert’. Ästhetisch mit Witz. "Irgendwie mehr als
Klaus Hubers Oratorium über die 'Geknechteten' hat mich seinerzeit
der gerade herausgekommene Film Der
Sinn des Lebens von Monty Python politisch-ästhetisch
motiviert." (Cornelius Schwehr aus dem Gedächtnis zitiert.)
Details durch Konzeptmenge, Mehrwert durch Widersprüche (die CDU
loben!).
„Kunst macht sichtbar“ (Paul Klee); sie sichtet aber auch das Machbare.
Sie schafft Medien.
Juni 2010