Erschienen in: Musik mit Musik
Frühere Fassung in: Dissonance 114 (Juni 2011)
-2.
Wie in jeder Wissenschaft ist auch in der praktischen Ästhetik –
vulgo Design und Kunst – „Grundlagenforschung“ unverzichtbar. Im
Chemielabor forschen Spezialisten an Dingen, die außer ihnen
keiner versteht – aber aus den Ergebnissen entsteht später
vielleicht etwas allgemein Nutzbares. Auch das „strukturelle
Hören“, ein Paradigma der Neuen Musik und im Grunde ganz der
akademischen Elite vorbehalten, hat seine längerfristigen
kulturellen Auswirkungen. (Stockhausen wurde zu Recht als
„Großvater des Techno“ bezeichnet, und die Neue Musik reklamiert
ja gerne, dass sie experimentell ergründet, was der Pop mit
mehreren Dekaden Verspätung übernimmt.) Selbst das sperrigste
Musikstück bewirkt möglicherweise ein Stück
Aufklärung in den Köpfen Einzelner, die wiederum ihre
demokratische Stimme geltend machen. Niemand kann widerlegen, dass auch
Weberns Quartett Opus 22 ein kleines Bisschen zum Fall der Mauer
beigetragen hat!
-1.
Was lässt sich für solche bildungselitären, inhaltlich
kompromisslos anspruchsvollen Güter zunächst tun? Vermittlung
– Bildung, Bildung, Bildung. Aber allererst: Verbreitung. Jedes
Laborergebnis gehört ins Internet.
0.
Auch wenn die „Grundlagenforschung“ wichtig ist, habe ich in meiner
Arbeit mitunter eine andere Intention. Zumindest möchte ich nicht
nur im Labor stehen.
Die Inakzeptanz der modernen Musik
ist
eines der größten Desaster der Kunstgeschichte.
Jean-Luc Godard
1.
„Kulturelle Lernprozesse sind stets verschlungene“ schrieb
unlängst ein auch als Publizist sehr aktiver Komponist. „Stets“?
Das ist falsch, bequem kulturpessimistisch und im schlechtesten Sinne
elitär. (Der Relativitätstheorie kann man nicht Elitarismus
vorwerfen, nur weil sie fast niemand versteht; einer Haltung aber sehr
wohl.) Die Aussage, Weberns Quartett erbrachte einen Teil zur
friedlichen Revolution 1989, darf kein Trostbrief für „verkannte
Genies“ sein. Sonst kann man auch gleich im Glauben arbeiten, dass der
Flügelschlag eines Schmetterlings andernorts ein Unwetter
auslöst – bei dem auch noch glatt ein Diktator vom Ast erschlagen
wird. Es gibt direktere Möglichkeiten.
2.
In anderen Medien ist die Kunstavantgarde des 20. Jahrhunderts ja
angekommen, ohne allzu große Verwässerung. Warhols
knallfarbene Marilyn Monroe ist eine Ikone, Apples
Logo – Augen frontal und Nase im Profil – zitiert den kubistischen
Klassiker, und unlängst erhielt ich in einer schwäbischen
Kleinstadt eine Brottüte, deren Hintergrunddruck unverkennbar von
Mondrian abgekupfert worden war. Analog hätte in der
schwäbschen Kleinstadtbäckerei dann eigentlich ein leicht
elektronisierter Webern aus dem Radio klingen müssen – das
allerdings geschieht bekanntlich nicht. Offenbar gibt es angeborene
oder kulturelle Divergenzen in der Wahrnehmung verschiedener Medien.
Aber immerhin können wir Warhol & Co als Hoffnungszeichen
nehmen, dass es nicht grundsätzlich an intellektuellen
Fähigkeiten mangelt.
3.
Ich habe mit den nicht-professionellen Musikern aus meinem
Freundeskreis, also vor allem mit Künstlern anderer Sparten und
Akademikern, eine kleine (nicht-repräsentative, aber
doch vielleicht beispielhafte) Umfrage durchgeführt: Was für
Musik hört
ihr? – Anders gefragt: Wodurch zeichnet sich anspruchsvolle Popmusik
aus? Denn Neue Musik hören sie kaum bis gar nicht, aber auch nicht
gerade Dieter Bohlen (ich glaube, man kann das unabhängig vom
funktionalen Bezug verschiedener Musiken betrachten; es geht
überhaupt um’s Kennen und Wertschätzen). Ein erstes Ziel der
Ausweitung des Neue-Musik-Radius wäre schließlich, neben der
Jugend, diese Gruppe.
Was sind die Unterschiede dieses „Intellektuellenpop“ zur Neuen Musik?
a) Die Popmusik ist allermeist mit Text (Gesang), die semantische Ebene
wird also durchgehend mitstimuliert.
b) Die Popmusik hat andere Instrumente (Band / Elektronisches und oft
sehr charismatische, unverwechselbare Sänger).
c) Die Popmusik ist, trotz gelegentlicher Wagnisse, letztlich tonal
(harmonisch, metrisch, formal).
d) Die Popmusik ist primär auf Reproduktionsmedien angelegt.
e) Die Popmusik ist medial ausgeweitet auf Video, Show, Outfit,
Personen.
Das ist jetzt sehr schwarz-weiß, aber ich meine doch feststellen zu können, dass die Neue Musik größtenteils als „reine Musik“ ohne Text angelegt ist, ihre instrumentale Basis die klassischen, akademisch eingeschulten und institutionell gruppierten Instrumente sind, sie bei aller Re-Inklusion tonaler Mittel im Wesen atonal ist und ihr eigentlicher Austragungsort der Konzertsaal ist. (Und umgekehrt, dass 99% der Popmusik den obigen Analysen entspricht.) Indes möchte ich in Frage stellen, ob diese Distinktionen einen Qualitätsunterschied bedeuten.
4.
Ich bin der Ansicht, dass die Neue Musik einige Aspekte ihres
Elitarismus abschütteln könnte und ihr das gut täte,
ohne einen Anspruch preiszugeben:
a) Text
„Absolute Musik“ gibt es nicht, auch nicht „autonome“, Musik steht in
Zusammenhängen (ökonomisch, gesellschaftlich, politisch,
privat, ...). Komponisten geben ihren Stücken ja zumindest Titel
und schreiben meist eine Programmnotiz. Ich bin dafür, die
Textseite zu stärken; nicht unbedingt gesungen, das gleitet zu
schnell in (unverständliche) Musik, nicht als Programmtext, da ist
viel zu unklar, von wem-wann-ob-wie das gelesen wird, sondern mit
Moderationen, Textprojektionen, Videos, Handouts. Beispielsweise habe
ich in meinem Stück Fremdarbeit nicht selber komponiert, sondern
Komponisten aus Billiglohnländern dafür bezahlt, mir
Stilkopien meiner Musik anfertigen zu lassen. Dieses Konzept musste
natürlich mitkommuniziert werden, die Musik versteht sonst keiner,
weder Laie noch Profi. Also habe ich das Stück moderiert, was zu
einem lebendigem Konzertereignis führte.
Solche Konzeptualisierung ermöglicht grundsätzlich, Themen –
und das heißt auch gesellschaftlich brisante Themen – in die
Musik zu bringen und ein reflexives Niveau einzunehmen. Weitere
„Vermittlung“ sollte dann eigentlich nicht nötig sein.
b) Instrumente
Großen Reformbedarf sehe ich beim Instrumentarium. Ich gehe oft
ins Theater, vor allem in mein Lieblingstheater, dem HAU in Berlin,
einer der fortschrittlichsten Spielstätten Deutschlands. Sehr
bekannt ist mittlerweile die ansässige Gruppe Rimini Protokoll,
die ein aktualitätsbezogenes Dokumentartheater inszeniert; gerne
arbeiten sie dabei auch mit Musik. Ich glaube, wenn die mich nach einer
Musik fragten, und ich käme ihnen mit Streichquartett oder Fagott
an, würden sie mir den Vogel zeigen! Mit Recht: Die Aura dieser
Instrumente ist bürgerlich, altmodisch, unsexy, verschlissen. Die
Neue Musik dockt meist ans klassische Publikum an, aber ich glaube,
dadurch versperrt sie mehr möglichen Hörern den Zugang als
sie gewinnt. Das Klassikimage ist schädlich, die Berliner
Philharmonie ein Altenheim – als junger Mensch, so sehr ich
persönlich Beethoven liebe, möchte als Künstler kein
Altenpfleger sein.
Ich hoffe, dass digitale Controller, heute noch im experimentellen und
spektakulären Stadium, in Zukunft probate Alternativen zu den
alten Instrumenten sein werden. Neue Musik soll nicht neue klassische
Musik sein, sondern die eigenständige, ästhetisch und
technisch avancierte Kunstmusik der Gegenwart.
c) Tonales
Mir fällt es schwer, Tonales einzubeziehen. Die Freiheit der
Atonalität ist ein hohes Gut; zweiwertige Beats und
funktionsharmonische Turnarounds empfinde ich als ästhetisch
unterkomplex. Wohl die meisten Komponisten der Neuen Musik hierzulande
denken so. Damit verschließt man sich aber freilich dem Gros der
Hörer; allem Anschein nach ist Atonalität unvereinbar
mit Pop. Natürlich gibt es Ausnahmen – es gibt ja alles irgendwo
–, doch das systemlose, systemnegierende Hören bedarf in den
allermeisten Fällen der professionellen Schulung und wird darum
fast immer gemieden.
Integration von Tonalem ist aber natürlich möglich; es ist
ein Unterschied, ob tonal gedacht oder Tonales genutzt wird, auch wenn
das dann wesensmäßig atonal bleibt (Versöhnung halte
ich für schwer möglich), ist vielleicht doch eine
Öffnung geschehen. Ein Unterscheid ist allerdings auch, ob jene
Tonalität des 19. Jahrhunderts, sprich der „klassischen Musik“
genutzt wird, wie es in der Neuen Musik meist der Fall ist, oder die
tonale Musik der Gegenwart – der Popmusik. Hier greift wiederum das
Manko der alten Instrumente.
Mit stärkerem konzeptuellen Verständnis ist auch für
mich Tonales nutzbar; in meinem Stück Charts Music war durch eine
konterkarierende Video-Addition möglich, ausschließlich
Popmusik zu verwenden (nur die Form ist eine atonale Reihenform bzw.
eine Collage). Ich halte das Stück, das weltweit ein großer
Erfolg war, dennoch für „Neue Musik“ (der oben zitierte Publizist
nicht).
d) Reproduktionen
Ein Paradigmenwechsel in der Verbreitung liegt auf der Hand: Im
Konzertsaal findet eine einmalige (sehr teure) Aufführung statt,
und in der Regel können zwischen 50 und 500 Stühle besetzt
werden. An Rechnern mit Internetzugang, von denen sich auf alles
Kopierbare zugreifen lässt, stehen derzeit rund 2 000 000 000
Stühle. Ich halte es für sinnvoll und die Neue Musik für
wert, sie kopierbar fürs World Wide Web zu gestalten, sie auf
„Virtugenität“ (Harry Lehmann) von vornherein anzulegen.
Mittlerweile sind Aufführungen für mich zu erheblichem Grad
auch dazu da, später dem „Long Tail“ des Internets in Form von
Dokumentationen zur Verfügung zu stehen.
e) Mediale Ausweitung
Dem geschulten Komponisten ist die tonale Popmusik zu einfach
gestrickt, jedem Lyriker, der sich der Probleme von Sprache bewusst
ist, sind die Songtexte zu banal, jedem Bühnenbildner sind die
Poppodien zu effektheischend, jedem Maler, der Tag und Nacht über
Bildaufbau grübelt, sind die meisten Plattencover lächerlich
harmlos, jedem Tänzer, der Tanz als Kunstform versteht, sind die
Choreographien in den Videoclips zu wenig Philosophie über den
Körper. Doch all dieser Medien bedient sich die Popmusik, und aus
ihrem Zusammenspiel, zuzüglich des Starkults, der Posen, und, weil
es so eine große Rezeption gibt, des Spiels mit der Rezeption als
Medium, generiert sie die Komplexität, die Poptheoretiker wie
Diedrich Diederichsen dazu bringen, „U“ zum neuen „E“ zu erklären
und die ihn in der Popmusik mehr Dialektik entdecken lassen als Adorno
je bei Schönberg. So wird man wohl in 200 Jahren, wenn von der
Postmoderne die Rede ist, eher David Bowie als Wolfgang Rihm
betrachten, wenn es um Pioniere der Elektronischen Musik geht Kraftwerk
und nicht Gottfried Michael Koenig.
Die Neue Musik geht nicht in diese Breite, sondern konzentriert sich
auf die Musik und geht da in die Tiefe. Ihr fehlt ohnehin das Kapital,
in all diese anderen Medien zu investieren. Eine gewisse mediale
Ausweitung wäre allerdings möglich, mit Videos auf YouTube,
Blogs und vor allem der Pflege eines künstlerischen Gesamtkonzepts
– dann finden sich auch Entsprechungen zur Musik in anderen Medien.
5.
Alle diese Maßnahmen erachte ich im Grunde nicht als
generöses ‚Entgegenkommen’ an ein breiteres Publikum, sondern als
gegebene Optionen der heutigen Kunstmittel. Jeder der genannten Punkte
hat mit den Novitäten der Digitalen Revolution zu tun. Vielleicht
hat die Popmusik zumindest mit manchen Aspekten, die sie von der Neuen
Musik unterscheidet – Instrumente, Text, Medialität, Reproduktion
– nicht nur Unrecht. Letztlich möchte ich nicht nur im Labor
stehen, aber auch nicht zwanghaft im Mainstream schwimmen müssen,
sondern eine Kunst machen, die sich mit den Möglichkeiten ihrer
Zeit auseinandersetzt. Vielleicht wird sie dann aber auch von ihrer
Zeit erkannt.
Darum soll jedes Heilsversprechen unterbleiben und schon gar kein Dogma
ausgesprochen werden. Hier ist von nicht mehr und nicht weniger als von
Möglichkeiten die Rede; aber wer an die Möglichkeit des
Wandels in der Kunst glaubt, wird sie nutzen.
Oktober 2010