Komponieren und Urheberrecht
Erschienen in: IP-Notiz
Es hat auch sein Gutes, dass die Neue Musik gesellschaftlich und
ökonomisch de facto irrelevant ist: Ihre Narrenfreiheiten
reichen bis zur praktischen Rechtsfreiheit. Niemandem kommt es hier in
den Sinn, Ideenklau oder getreue Übernahmen einzuklagen, denn es
gibt monetär (und moralisch) nichts zu holen. Jörg Widmann
kann vor einer Gruppe Jugendlicher ungeniert behaupten, gewisse
Klavierspieltechniken selbst erfunden zu haben, die tatsächlich
seit spätestens den 1960ern kursieren. Das wird allenfalls
musikwissenschaftlich, aber gewiss nicht juristisch besprochen.
Theoretisch ließen Rechtsbrüche sich natürlich ahnden. Urherberrechte entstehen schon bei einer einfachen kreativen Leistung von eigentümlicher, sprich: individueller „Schöpfungshöhe“. Die Anforderungen sind dabei gering; bereits simpelster Schlagermusik wird „Schöpfungshöhe“ zugesprochen, ebenso Einspielungen und Naturaufnahmen, für die Leistungsschutz und Tonträgerherstellerrecht bestehen. Heiße Eisen sind in neuerer Zeit vor allem Samples, bei denen der Diebstahl offenkundiger ist als bei Übernahme einer Zwölftonreihe. Ob das neue Musikstück, in das etwa ein Schlagersample inkorporiert ist, selbst ein Schlager ist oder radikalste Neue Musik: Öffentliche Aufführung, Sendung, Verbreitung oder Verfügbarmachung über das Internet und andere elektronische Netzwerke, Bearbeitung, Speicherung und Übertragung sind verboten. Entgegen der landläufigen Meinung, bis zu zwei Sekunden oder vier Takten dürfe alles verwendet werden, gibt es für den Umfang der kopierten Stücke keine Vorformulierung; schon die Verwendung eines winzigen Klangpartikels ist potentiell rechtswidrig; das begutachten Sachverständige von Fall zu Fall.
Was hat diese potenzielle oder theoretische Illegalität nun mit der isolierten Praxis der Neuen Musik zu tun? Das Dilemma besteht ja darin, entweder gesellschaftlich wirkungslos und narrenfrei oder gesellschaftlich relevant und unfrei zu sein, denn die Verwertung und somit auch die urheberrechtliche Brisanz ist an die Resonanz gekoppelt. Ab wann jeweils ein Kläger auftritt, lässt sich kaum voraussagen. Klar ist jedenfalls, dass die Neue Musik aus der Isolation geholt werden muss. Dem leistet die digitale Technologie in bewusstseinsbildender und distributiver Hinsicht Vorschub. Das Problem fängt indes schon beim Formalen an. Die Komponisten Neuer Musik versuchen ja, an den Markt anzuschließen und melden ihre Werke bei der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) an; das kulturelle Nischendasein nehmen sie gewohnheitsmäßig in Kauf, reale Armut aber wahrscheinlich nicht. Der GEMA-Werkanmeldebogen fragt allerdings nicht nur gegenwartsfremd nach „Tonart“, „Opuszahl“ und „Anzahl selbständig geführter Stimmen“, sondern fordert auch ein reines musikalisches Material oder aber Lizenznachweise für fremde Klänge. Wer mag da lügen?
Es ist ja längst keine rein juristische Angelegenheit mehr, sondern zunehmend auch eine ästhetische: Seit der medialen Allverfügbarkeit im Internet einerseits und dem zu Ende gegangenen Materialfortschritt in der Neuen Musik andererseits stellen sich mit jeder Klangverbindung die (unbeantwortbaren) Fragen: Was ist eigen, was ist fremd, was ist empirisch, was negierend, was ist semantisch, was Phänomen, ab welcher Länge hat etwas Zitatcharakter? Wie mit den Medien umgehen, da auf einem Medium zu sein ja bedeutet, selbst Medium zu sein? Das Werk ist Netzwerk. Was also ist heute Identität? Dem hinkt der GEMA-Formalismus so weit hinterher wie das Urheberrecht allgemein.
Der globale rechtsfreie Raum des Internet-Tauschs, den die Neue Musik als fortschrittliche Ästhetik antizipiert hat, macht spätestens jetzt zweierlei deutlich: Erstens muss Kreativität medial ermöglicht werden, sprich: grundsätzlich legal sein. Kopieren ist eine Kulturtechnik und ein derartiger technologischer Fortschritt setzt sich erfahrungsgemäß immer durch. Die lächerlichen Versuche der Tonträgerkonzerne, eine digitale Simulation des Copyrights des 20. Jahrhunderts zu errichten, gleichen einer neuen Prohibition. Gott sei Dank hört Musik auf, kommerziell zu sein! Anders als im Sozialismus wird das die Produktion steigern, quantitativ und qualitativ.
Zweitens muss Kreativität anders honoriert werden, verstärkt durch Aufträge, die die Tantiemen vielleicht vollständig ersetzen könnten. Es darf nicht sein, dass für kleinste Klänge Lizenzen gekauft werden müss(t)en, die monatelange Arbeitsleistung eines jungen Komponisten aber in keinem Verhältnis zur GEMA-Ausschüttung steht − dafür hat dieser selbst wiederum der GEMA noch Gebühren zu entrichten, wenn er seine eigenen Werke im Netz zum (kostenlosen!) Download anbietet. Demgegenüber gilt es neue Finanzierungsmodelle wie konsequente Abgaben auf Leermedien oder eine Kulturflatrate zu entwickeln − vorausgesetzt, der Begriff „Kultur“ wird dabei ernst genommen und die industrielle Klangproduktion greift nicht den Löwenteil ab.
Vorgeschobene Zöglinge der Musikindustrie forderten die Kanzlerin in einem offenen Brief, der am 24. April 2008 in den großen deutschen Tageszeitungen erschien, dazu auf, ihre Rechte (= die Interessen der Musikindustrie) zur „Chefsache“ zu erklären und ihr geistiges Eigentum gegen die Internet-Piraterie zu verteidigen. Die Unterzeichnenden, zu denen neben Klaus & Klaus, DJ Ötzi und Scooter auch Aribert Reimann und Wolfgang Rihm zählen, bekräftigten sich mit dem Slogan „Geistiges Eigentum ist das Öl des 21. Jahrhunderts“. Wo kämen wir da hin, wenn künftig alle Öl frei verfügbar hätten? Wenn die Gedanken frei wären? Mögen Kunstwerke zu dieser Diskussion Öl ins Feuer gießen.
Der Komponist Johannes Kreidler führt am 12. September 2008 die Kunstaktion „Product Placements“ durch, für die er ein 33 Sekunden langes Tonbandstück mit 70200 Fremdzitaten komponiert hat, um es ordnungsgemäß bei der GEMA anzumelden (http://www.kreidler-net.de/productplacements.html ).