Erschienen in: Musik mit Musik
Frühere Fassung in: Positionen 72
Den schlepp ich durch das wilde Leben,
durch flache Unbedeutenheit.
Faust 1
In seiner Ricercare-Instrumentation wendet Anton Webern
die Idee der Klangfarbenmelodie – anders als Arnold Schönberg im
berühmten Orchesterstück – nicht auf einen beinahe stehenden
Klang an, sondern auf einen be-stehenden, die barocke Vorlage. Nach
aristotelischem Form-Stoff-Verständnis gibt Webern dem Bachschen
Text als Medium eine weitere Formung, obwohl dieser selbst schon eine
Form aus Tönen ist und diese wiederum sind bereits Formungen des
Mediums Luft. Eine Form kann also wieder Medium werden; Johann
Sebastian Bachs Hinterlassenschaft ist kontingent (Instrumentalisten
sollten sich als Komponisten ansehen oder Interpretationen bei
Komponisten in Auftrag zu geben, noch nicht mal zur großen
Umbearbeitung, sondern gerade für subtile Fragen der Phrasierung,
Artikulation etc.), und kontingent ist heute jede Musik, die vom
mp3-Player läuft: Man kann sie stoppen, zum nächsten Track
wechseln, lauter oder leiser stellen. Diese Änderungen am Klang
gälte es wieder als Medium für eine neue Musik zu
erkennen. Nach Niklas Luhmanns Definition ist das Wesen der Kunst, dass
sie sich ihre Medien überhaupt erst schafft. [1]
Oder wie die Dekonstruktivisten sagen: Etwas wird zum Spiel erhoben. [2]
Musik ist immer offen und vermittelt, realisiert sich über
Brüche, Transfers, über Menschenintervalle, über
technische Schaltungen. An diesen Stellen oder an neu
hineingeschlagenen Differenzen kann man Gestaltungsraum gewinnen. Musik
ist aufklappbar, Ebenen lassen sich unterscheiden. Schon der Einzelton
verdankt sich einer meist über Jahrhunderte ausgebildeten
Spieltechnik, über die daraufhin kompositorisch verfügt wird.
Die Tonleiter ist eine geschichtliche Errungenschaft, aus deren
Struktur individuelle Themen gebildet werden. Für die Spieler ist
die Musik in Zeichen notiert und der Komponist macht sich Begriffe
davon, ebenso die Rezeption. Musik ist immer Medium oder lässt
sich zum Medium machen. Sie wird umcodiert auf Papier und andere
Speichermedien – mit dem Plattenspieler oder dem mp3-Player wird nur
noch handgreiflicher, was schon Strawinsky mit überlieferten
Partituren anzufangen wusste. Wir haben es mit distanzierten Objekten
zu tun, die selbst aus Objekten zusammengesetzt sind.
Unabhängig vom jeweiligen Stück und seiner Dynamik lässt
sich auf einem mp3-Player seine Lautstärke regulieren. Am
Parameter Lautstärke lässt sich der Klang formen, das
heißt medial handhaben; im Extremfall ist das dahinter laufende
Soundfile nur mehr Träger der Lautstärkeschwankung. Aber auch
weitere Klangeigenschaften können selektiert werden: zum Beispiel
lässt sich die Kontinuität des gespielten Stückes durch
Pausierung oder Spulen ändern. Zur Formung einer Musik sucht ein
Komponist sich Medien, die durch seine intentionale Bearbeitung als
Medien kenntlich werden. Immer kann die Medium-Form-Operation
angebracht werden; Luhmann gelangt mit seiner optionalen Anwendung des
Begriffspaares bis zur selbstreferentiellen Formel, dass in der Kunst
noch die Differenz von Medium und Form medial ist. Damit ist
die Dekonstruktion der Begriffe Klang, Musik, Material, Instrument,
Interpretation, Komposition, Werk etc. eingeläutet. Ein einzelner
Ton kann schon als Form dargestellt werden (warum sollte die Leistung
eines Klavierbauers, einen schönen Ton geschaffen zu haben, nicht
als Komposition gelten? [3]) oder ein
fertiges Musikstück kann wiederum lockeres Medium sein, wenn es
entgegen seiner immanenten Syntax zerschnitten wird.
Hinlänglich ist von der Krise des Klanges die Rede. Es sei das Ende des postseriellen Klangfetischismus gekommen, aus Klängen lasse sich nicht mehr Substanz zu einem Werk gewinnen, und ohnehin gebe es keine neuen Klänge mehr, kein Klang sei unberührt. Tatsächlich ist Klang heute immer schon geschichtlich konnotiert, er kann stets als Kürzel einer zugeordneten Musik empfunden werden, oft drängt er geradezu danach – "Klang ist Drang" (Ernst Kurth). Die semantischen Implikationen von Klängen lassen sich aber wieder als Spiel mit der Wahrnehmung aufgreifen, durch bewusstes Loslassen ihrer eigenen Bewegung einerseits und radikale Entgegensteuerung andererseits. Das heißt eine ganze Musik als Objekt, als einen Klang zu begreifen und diesen als Objekt der Distanz. Kommunikation gelingt nicht dort, wo "leere Innerlichkeit" (Hegel) übergeben wird, sondern wird substanziell, wenn eben ein Objekt die Interaktion zwischen Subjekten vermittelt. [4]
Die musique concrète musikalisierte Alltagsklänge, ich musikalisiere bestehende Musik. Was heißt nun aber "Musikalisieren"? In meiner Werkreihe windowed fragmentiere ich gegebene Musikstücke, um mit Graden der Wiedererkennbarkeit zu spielen. Im Hintergrund laufende Soundfiles verschiedenster Herkunft werden nur in Ausschnitten zwischen 40 und 1000 Millisekunden eingeblendet. Je nach Größe eines solchen "Fensters" nimmt der Hörer entweder ein buntes, undefinierbares Klangbruchstück wahr oder aber einen Ausschnitt, der klar auf die dahinter liegende Musik verweist. Diese Fragmente kombiniere ich dann beispielsweise mit Aktionen von Schlaginstrumenten (wie in windowed 1 für Schlagzeug und Zuspielung). Schließlich "sind" die Instrumente des Schlagzeugs auch Klänge, die aus verschiedensten Kulturen herausgerissen wurden.
In den windowed-Stücken belasse ich die verwendeten Soundfiles im Hintergrund immer in ihrer Originalgeschwindigkeit – der Mozart-Zuspielung in Helmut Lachenmanns Accanto vergleichbar, nur dass bei mir viele verschiedene Musiken parallel ablaufen. In meinem Stück in hyper intervals erhebe ich hingegen Zeitintervalle zu meinem kompositorischen Repertoire: Zwischen eingeblendeten Ausschnitten aus einem Musikstück liegen zeitliche Sprünge innerhalb dieses Stückes, was von den live-Instrumenten in gleicher Weise mit abstrakteren Tonverbindungen begleitet wird, oder sie füllen die Pausen live neu aus. Absichtlich verwende ich hier schlechteste Popmusik (in mp3-Qualität), unbedeutend flach aber darum wiederum gut formbar, "schwache" Medien, oder – mit Luhmann – "lose gekoppelte". In Dekonfabulation dient für zeitliche Sprünge vor und zurück (und auf der Stelle bleibend) neben einfach gestrickter tonaler Musik zusätzlich auch die Syntax und Semantik von Sprachmaterial, zugespielt und live gesprochen, an der Grenze zwischen Tonkunst und Sprachkunst.
Mir dient jedoch nicht nur fremde Musik als Klangobjekt, sondern auch die eigene (die natürlich gleicherweise dem unweigerlichen musikgeschichtlichen Prozess der Objektivierung unterliegt). Im Klavierstück 5 wird klassisch-moderne Klaviermusik ebenso gesampelt und extrem transponiert bzw. im Tempo geändert wie die selbst exponierten Klänge, bis später quasi durch das ganze eigene Stück gespult und dieser Akt wiederum zur Musik wird. Rekursionen in Reinform verwende ich in meiner Elektronik-Performance I am sitting in Kreuzberg / Test , wo es durch ständiges Neu-Aufnehmen und Verstärken des Vorangegangen zu regelrechten "Explosionen" kommt; dies wird dann zur Begleitmusik halbabstrakter Filmaufnahmen von US-amerikanischen Atombombentests.
In 5 Programmierungen eines MIDI-Keyboards spiele ich bekannte Stücke aus der Musikgeschichte originalgetreu auf einem Keyboard, nur dass ich das Keyboard in verschiedenen Weisen umprogrammiert habe, und ein anderes Klangresultat aus den Informationen des Tastendrückens resultiert. Im letzten Stück daraus (das ich auch als interaktive Installation ausgestellt habe), Universität der toten Philosophen, erklingt erst bei Loslassen einer Taste, also am Ende der eigentlich gespielten Länge, der zugehörige Ton. Mit diesem Setup spiele ich dann den letzten Contrapunctus aus Bachs Kunst der Fuge. Seine Töne werden durch den Algorithmus unterschiedlich zeitlich verschoben, als eine Art zweite Polyphonie. Einerseits wirkt das Stück dadurch stark destruiert, andererseits verursacht die rhythmische Zersetzung eine besondere musikalische Lebendigkeit, da sie einer äußerst subtilen manuellen Arbeit entspringt: Ich spiele das Stück wie auf der Orgel, wo die Artikulation eines Tons durch seine Länge bestimmt wird und diese darum mit großer Sorgfalt bedacht ist.
Für die untitled performance #1 dient mir als
Eingabegerät eine Computertastatur, auf der ich durch Tippen eine
Abfolge von über 9000 Ausschnitten aus allen erdenklichen Musiken
abspiele. Der Rhythmus des eingegebenen, improvisierten (und dem
Hörer unbekannten) Texts formt das Klangmaterial quasi
syntaktisch.
Eine solche Tour de Force durch tonale Klänge ist auch Idee in
meinem Orchesterstück Nachgefühle, in dem Hunderte
tonale, aber funktional nicht in Nachbarschaft stehende Akkorde in
einem extrem variierenden Tempo wild aufeinander folgen. Jeder Akkord
hat eine eigene Zuordnung, unterstützt von der pointilistischen
Instrumentation. Darüber habe ich aber einen vereinheitlichenden
Puls gesetzt, wodurch sich ein Gegensatz von Kräften ergibt, der
sich dann je nach Tempo zugunsten der einen oder anderen Seite
verschiebt.
Kennzeichnend für meine Ästhetik einer "Musik mit Musik" ist die Enteignung und Zweckentfremdung. [5] Mir wurde einmal unterstellt, dass ich die Musik ja eigentlich hassen müsste, wenn ich so mit ihr verführe. Nun, in der Tat fühle ich mich nicht der sogenannten "Tradition" verbunden bzw. wenn es überhaupt eine Tradition gibt, in der ich mich verwurzelt fühle, dann sind das ein paar wenige Stücke aus der Neuen Musik der letzten 30 Jahre, nicht aber Kunst aus der Zeit der Postkutsche. Das soll keine Ignoranz bedeuten, ich spiele seit meiner Kindheit leidenschaftlich gern Klavier, unterrichte an der Hochschule Kontrapunkt und Harmonielehre und betätige mich in der musiktheoretischen Forschung. Ansonsten ist Popmusik die Musik, die ich freiwillig und unfreiwillig am meisten höre. Jedoch offenbart sich meinem Klanggefühl heute ein durchweg künstlich aufrecht erhaltenes und pornografisch ausgebeutetes "Triebleben der Klänge"; und fast nur noch von der distanzierten Position des Schneidetisches aus wird mir dieser Klang wieder zur Musik.
Johannes Kreidler, Juni 2007
[1] Niklas Luhmann: Das Medium der Kunst. In: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2001, S. 198-217.
[2] Peter W. Zima: Dekonstruktion. Tübingen 1994, S. 27.
[3] Johannes Kreidler: Instrument Design. Berlin 2007.
[4] Carl Dahlhaus: Abkehr vom Materialdenken. In: Gesammelte Schriften. Band 8. Hg. v. Hermann Danuser. Laaber 2005, S. 493.
[5] Vgl. Johannes Kreidler: Soundfiles. In: KunstMusik 8/2007.